Die Schmuddelkinder sind gegangen - zum Tod von Franz-Josef Degenhardt

In westdeutschen Kleinstädten las man auch zu meiner Schulzeit noch vor allem Schiller und Goethe. Als wir in der elften Klasse waren, brachte unser Deutschlehrer uns plötzlich Liedtexte mit. Diese Elemente der bis dato selten gestreiften Populärkultur sollten wir nun auf ihren literarischen Gehalt hin prüfen. Als Schlager-Beispiel diente ihm "Tränen lügen nicht" von Michael Holm. Das Gegenbeispiel war "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern" von Franz-Josef Degenhardt. Der Song hatte zwar damals schon einige Jahre auf dem Buckel, doch erschien er mir geheimnisvoll und ziemlich modern. Wo zum Teufel lag wohl die "Oberstadt"? Wie hörten sich "Rattenfängerlieder" an? Und ist das Refugium bei den "Schmuddelkindern" nun das Paradies, in dem man dem engen Kleinstadt-Muff entkommt ("Muff", auch so ein zeitgebundenes Wort, ein Begriff, der einen sofort an die 50er und 60er Jahre denken lässt ...), oder ist es eine verrohte Hölle? Heute ist Franz-Josef Degenhardt im Alter von 79 Jahren gestorben - und mit ihm ein Stück Liedermacher-Bundesrepublik. 



Spiel nicht mit den Schmuddelkindern,   
sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
machs wie deine Brüder.

So sprach die Mutter, sprach der Vater, lehrte der Pastor.
Er schlich aber immer wieder durch das Gartentor
und in die Kaninchenställe,
wo sie Sechsundsechzig spielten
um Tabak und Rattenfelle,
Mädchen unter Röcke schielten,
wo auf alten Bretterkisten
Katzen in der Sonne dösten,
wo man, wenn der Regen rauschte,
Engelbert, dem Blöden, lauschte,
der auf einen Haarkamm biß,
Rattenfängerlieder blies.
Abends, am Familientisch, nach dem Gebet zum Mahl,
hieß es dann: Du riechst schon wieder nach Kaninchenstall.

Spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
machs wie deine Brüder.

Sie trieben ihn in eine Schule in der Oberstadt,
kämmten ihm die Haare und die krause Sprache glatt.
Lernte Rumpf und Wörter beugen.
Und statt Rattenfängerweisen
mußte er das Largo geigen
und vor dürren Tantengreisen
unter roten Rattenwimpern
par coeur Kinderszenen klimpern
und, verklemmt in Viererreihen,
Knochen morsch und morscher schreien,
zwischen Fahnen aufgestellt brüllen, daß man Freundschaft hält.
Schlich er manchmal abends zum Kaninchenstall davon,
hockten da die Schmuddelkinder, sangen voller Hohn:

Spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
machs wie deine Brüder.

Aus Rache ist er reich geworden. In der Oberstadt
hat er sich ein Haus gebaut, nahm jeden Tag ein Bad.
Roch, wie bessre Leute riechen,
lachte fett, wenn alle Ratten
ängstlich in die Gullys wichen,
weil sie ihn gerochen hatten.
Und Kaninchenställe riß er
ab. An ihre Stelle ließ er
Gärten für die Kinder bauen.
Liebte hochgestellte Frauen, schnelle Wagen und Musik,
blond und laut und honigdick.
Kam sein Sohn, der Nägelbeißer, abends spät zum Mahl,
roch er an ihm, schlug ihn, schrie: Stinkst nach Kaninchenstall.

Spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
machs wie deine Brüder.

Und eines Tages hat er eine Kurve glatt verfehlt.
Man hat ihn aus einem Ei von Schrott herausgepellt.
Als er später durch die Straßen
hinkte, sah man ihn an Tagen
auf nem Haarkamm Lieder blasen,
Rattenfell am Kragen tragen.
Hinkte hüpfend hinter Kindern,
wollte sie am Schulgang hindern
und schlich um Kaninchenställe.
Eines Tags in aller Helle
hat er dann ein Kind betört
und in einen Stall gezerrt.
Seine Leiche fand man, die im Rattenteich rumschwamm.
Drum herum die Schmuddelkinder bliesen auf dem Kamm:

Spiel nicht mit den Schmuddelkindem,
sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
machs wie deine Brüder!

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